Fossil des Monats Dezember 2020

Fragment eines Geweihs – Fossilisierter Geweihwechsel

Heteroprox eggeri Rössner, 2010, SNSB-BSPG 1959 II 5268

Neogen: Miozän (ca. 16 Millionen Jahre), Obere Süßwassermolasse, Sandelzhausen bei Mainburg, Niederbayern, Deutschland

Länge: 35 mm, Höhe: 45 mm, Breite: 13 mm

Geweihe sind außergewöhnliche Organe. Sie wachsen aus zylindrischen Auswüchsen, sogenannten Pedikeln oder Rosenstöcken, auf den Köpfen von Hirschen, werden regelmäßig selbst-amputiert und erneut gebildet. Die unterliegenden physiologischen und histologischen Prozesse und Mechanismen sind so komplex, dass Experten Geweihe schon als »unwahrscheinliche« biologische Strukturen bezeichnet haben.

Fossile Geweihe reichen bis in das frühe Miozän (ca. 18 Millionen Jahre) zurück. Bereits die ältesten teilen mit heutigen Geweihen, dass sie verzweigte, knöcherne Anhänge sind, die direkt aus den Pedikeln wachsen, im Gegensatz zu Hörnern von Antilopen und Rindern, die nachträglich mit dem Schädel verwachsen, nicht verzweigt sind und auch nicht abgeworfen werden. Allerdings wurden die erdgeschichtlich frühesten Geweihe lange Zeit als dauerhafte Schädelfortsätze interpretiert. Der heute typische Geweihwechsel wurde als eine während der Evolution allmählich erworbene Eigenschaft angesehen, die mit Geweihen begann, welche nur ausnahmsweise abgeworfen wurden.

Die Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Geologie bewahrt viele dieser seltenen frühen Geweihe auf. In einer aktuelle Studie zur Entstehung des Geweihwechsels wurde auch das Fossil des Monats, das Fragment eines Geweihs aus der Fossilfundstelle Sandelzhausen, untersucht. Es handelt sich um ein eher unscheinbares Fossil, das weder komplett noch besonders schön ist. Dennoch birgt es Informationen, die ganz wesentlich für eine Neuinterpretation der Physiologie dieser frühen Geweihe und des Geweihzyklus im Allgemeinen sind.

Das Fossil umfasst die Gabelbasis eines einfach gegabelten Geweihs der Hirsch-Spezies Heteroprox eggeri. Die beiden Sprossen sind abgebrochen. Resorptionserscheinungen am gegenüberliegenden Ende entsprechen einem Abwurf wie bei heutigen Geweihen. Um Einblick in das Wachstum des Geweihs und mögliche Hinweise auf den damaligen Geweihzyklus zu bekommen, wurden hochauflösende Röntgenbilder mit Hilfe einer Micro-Computertomographie hergestellt, die Untersuchungen des Knochengewebes in 2D und 3D erlauben.

Die Röntgenaufnahmen zeigen relativ kompaktes Knochengewebe, vor allem im Bereich der Gabelung. Es ist aufgebaut aus einzelnen längsorientierten Osteonen, die kleinsten funktionellen Einheiten im Knochen. Ihre Ausrichtung läßt auf ausschließlich längsorientiertes Wachstum an den Spitzen schließen, wie bei heutigen Geweihen. An der Gabelbasis ist das Gewebe mittig nicht nur etwas weniger kompakt, sondern enthält diskontinuierliche Gewebestrukturen. Sie sind einzig auf neu stimuliertes Wachstum zurückzuführen, das den Abwurf der vorhergehenden Geweihgeneration voraussetzt. Damit überliefert dieses Geweihfragment in seiner Gesamtheit einen wiederholten Abwurf und widerlegt gemeinsam mit vielen anderen untersuchten frühen Geweihen und Befunden die Hypothese des allmählich erworbenen Geweihzyklus.

Gertrud Rössner, München

Referenz: Rössner, G.E., Costeur, L., Scheyer, T. (im Druck): Antiquity and fundamental processes of the antler cycle in Cervidae (Mammalia). The Science of Nature.

Fotos: Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Geologie – Paläontologisches Museum München

Abbildung 1: Abgeworfene Geweihgabel des kleinwüchsigen Hirschen Heteroprox eggeri. Die Sprossenspitzen fehlen.

Abbildung 2: Computertomographisches Schnittbild durch SNSB-BSPG 1959 II 5268.

Das Fossil des Monats jetzt auch als Film: Link zu YouTube.

Das Faltblatt mit ausführlichen Informationen zum Fossil des Monats steht wie immer auf der Webseite der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie als PDF-Datei (1,8 MB) zum Download bereit.

Fossil des Monats ist eine regelmäßige Aktion des Paläontologischen Museums München. Hierbei werden jeden Monat besondere Fossilien aus dem Fundus der Staatssammlung ausgestellt und von Wissenschaftlern der Staatssammlung und dem Lehrstuhl Paläontologie und Geobiologie eingehend in Begleittexten und einem Faltblatt erläutert. Die Freunde der Bayerischen Staatssammlung für Geologie und Paläontologie München e.V. unterstützen diese Aktion.