Fossil des Monats Mai 2023

Europäisches Ur-Nashorn ohne Nasenhorn

Ronzotherium romani KRETZOI, 1940
Milchzähne mit Schmelzdefekt

SNSB-BSPG 1952 II 191

Neogen (Ober-Oligozän), ca. 25 Millionen Jahre, Karstspaltenfüllung in der Nähe von Gaimersheim bei Ingolstadt, Oberbayern

Das Wollnashorn der Eiszeit ist wohl das Sinnbild eines fossilen Nashorns. Tatsächlich gab es in den letzten 56 Millionen Jahren noch viele andere Nashorn-Arten in Nordamerika, Europa, Asien und Afrika. Diese Nashörner waren reich an Individuen und vielfältig in ihren Merkmalen. Ihre Körpergröße reichte von der hundegroßen Forstercooperia bis zum 15 Tonnen schweren Paraceratherium, dem größten jemals an Land lebenden Säugetier. Manche Arten sahen nicht nur ähnlich aus wie Tapire oder Hippos, sondern hatten auch eine Lebensweise wie diese. Im Gegensatz zu den heute lebenden Arten und zu dem, was der Name dieser Gruppe vermuten lässt (Nase + Horn), hatten viele fossile Nashörner keine Nasenhörner, was sich aus dem Fehlen von Ansatzstellen auf deren Nasen- und Stirnbein ableiten lässt.

Das Fossil des Monats Mai ist ein Oberkiefer eines Nashorns namens Ronzotherium romani, zerbrochen in beide Oberkieferhälften. Arten der Gattung Ronzotherium, benannt nach dem Berg Ronzon in Südostfrankreich, sind mittelgroße bis große Nashörner (ca. 1500 kg bei Ronzotherium romani) und gehören zu den frühesten echten Nashörnern (Rhinocerotidae) in Europa. In Deutschland ist Ronzotherium romani nur aus Gaimersheim (etwa 90 km nördlich von München, in der Nähe von Ingolstadt) bekannt, aber diese Art wurde auch in Frankreich, Ungarn und der Schweiz gefunden.

Die beiden Oberkieferreste tragen Milchzähne und einen durchbrechenden ersten Backenzahn (nur in der linken Hälfte). Sie gehören zu einem jugendlichen Individuum, das zwischen ein und drei Jahre alt war. Wie der Mensch und viele andere Säugetierarten haben auch Nashörner im Laufe ihres Lebens zwei Bezahnungen: Milchzähne und bleibende Zähne.

Die vierten Milchmolaren des Fossils weisen je eine feine Linie rund um die Krone auf. Dies ist ein Defekt des Zahnschmelzes, der als »lineare Schmelzhypoplasie« bezeichnet wird. Dieser Defekt wird mit Stresssituationen während der Entstehung des jeweiligen Zahns in Verbindung gebracht, die zu einer Unterbrechung der Schmelzbildung führen. Ausgehend von der zeitlichen Abfolge der Zahnentwicklung bei lebenden Nashörnern, nehmen wir an, dass sich diese vierten Milchmolaren noch im Fötus und kurz nach der Geburt entwickelten. Da sich der Defekt in der Nähe der Zahnkronenbasis befindet, die als letzter Teil der Zahnkrone gebildet wird, könnte diese Linie auf die Geburt des Tieres hinweisen.

Die Geburt ist in der Tat ein besonders stressiges Ereignis im Leben von Säugetieren, da diese aus einer geschützten Umgebung (dem Mutterleib) in die Außenwelt gelangen. Geburtsstress ist bei vielen Säugetierarten, auch beim Menschen, bekannt und zeigt sich in den Tagen nach der Geburt durch Gewichtsverlust. Die »lineare Schmelzhypoplasie« an der Basis des vierten Milchmolars ist eine häufige Erscheinung sowohl bei lebenden als auch bei fossilen Nashörnern.

Manon Hullot, München

Abbildungen:

Abb. 1: Beide Oberkieferhälften eines jungen Ronzotherium. Länge 127 mm links / 134 mm rechts, Höhe 70/59 mm, Breite 73/77 mm. Inv.-Nr. SNSB-BSPG 1952 II 191; Foto: BSPG/M. Schellenberger.

Abb. 2: Ronzotherium romani (KRETZOI, 1940); linke Oberkieferzahnreihe mit Schmelzdefekt (Ellipse). Inv.-Nr. SNSB-BSPG 1991 II 191; Foto: BSPG/M. Schellenberger.

Das Faltblatt mit ausführlichen Informationen zum Fossil des Monats steht wie immer auf der Webseite der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie als PDF-Datei zum Download (195 kB) bereit.

Fossil des Monats ist eine regelmäßige Aktion des Paläontologischen Museums München. Hierbei werden jeden Monat besondere Fossilien aus dem Fundus der Staatssammlung ausgestellt und von Wissenschaftlern der Staatssammlung und dem Lehrstuhl Paläontologie und Geobiologie eingehend in Begleittexten und einem Faltblatt erläutert. Die Freunde der Bayerischen Staatssammlung für Geologie und Paläontologie München e.V. unterstützen diese Aktion.